Abendveranstaltung der 34. Verlegung

Ergänzend zur 34. Stolpersteinverlegung in Würzburg fand am Abend im Uniklinikum Würzburg eine öffentliche Informationsveranstaltung mit dem Titel „Jüdische Ärzte in der NS-Zeit“ statt.

Begrüßt wurden die rund 500 Zuhörerinnen und Zuhörer von Philip Rieger, dem Kaufmännischen Direktor des Uniklinikums. Es schlossen sich Grußworte von Dr. Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, und von Judith Roth-Jörg, 3. Bürgermeisterin der Stadt Würzburg an.

Den Hauptvortrag des Abends hielt die Historikerin Linda Damskis. Gestützt auf die Inhalte ihres Buches „Zerrissene Biografien – Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung auf das Leben jüdischer Ärztinnen und Ärzte“ beschrieb sie, wie das NS-Regime jüdischen Medizinerinnen und Medizinern ihre berufliche, soziale und wirtschaftliche Existenz raubte. Sie berichtete über das Schicksal einiger jüdischer Ärzte der Region, das vom Tod im Konzentrationslager, dem Überleben des Holocaust, bis zur Emigration und Remigration reichte. Auch die Vor- und Nachgeschichte inklusive der späteren Auseinandersetzungen um Entschädigung für das erlittene Unrecht kamen zur Sprache.

Dr. Christina Burger und Christoph Zobel stellten die zusammen mit dem Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine und dem Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken entwickelte Klara-Oppenheimer-Route vor. Die nach einer jüdischen Ärztin benannte Route soll vor allem junge Menschen ansprechen und den historischen Kontext der Zeit des Nationalsozialismus vermitteln.

Ingrid Sontag und Elke Wagner vom Arbeitskreis Stolpersteine erläuterten in ihrem Vortrag, wie sich die Zahl der niedergelassenen Medizinerinnen und Mediziner in Würzburg bis 1938 entwickelte. Neben der Schilderung der Schicksale einiger weniger ausgewählter Persönlichkeiten, stellten die Referentinnen ein Handout zu Verfügung, das in knapper Form die Lebenswege von etwa 40 lokalen Ärztinnen und Ärzten aufzeigt.

Prof. Dr. Eva-Bettina Bröcker und Prof. Dr. Wolfgang Schmitt-Buxbaum fanden bei ihrer akribischen Suche nach jüdischen Ärztinnen und Ärzten in der NS Zeit noch 960, die in den bisher publizierten Gedenklisten der Fachverbände fehlten. Deren Namen und Fachgebiete sind im Anhang ihres Buchs „Von Dr. Abel bis Dr. Zwirn – das schwierige Gedenken an jüdische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus“ aufgeführt.

Die musikalische Gestaltung des Abends übernahmen fünf Schülerinnen und Schüler des Matthias-Grünewald-Gymnasiums.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die hausärztliche Praxis ist ein intimer Ort; sie ist in gewisser Weise auch ein utopischer Ort. Dort gibt es keine Unterschiede; es gibt nur den Arzt und den
Patienten, den Helfer und den Hilfsbedürftigen: Ein Ort der Menschlichkeit. Wie so viele dieser Orte wurde auch das hausärztliche Sprechzimmer während der
Herrschaft der Nationalsozialisten seiner Unschuld beraubt. Die Arztpraxis wurde zum Schauplatz des Rassenwahns.

Ich kann mir keinen geeigneteren Ort für die Rückschau in dieses dunkle Kapitel vorstellen, als den Hörsaal eines Uniklinikums. An diesem Ort werden die
kommenden Generationen ausgebildet, hier absolvieren Studierende ihr letztes Studienjahr; es wird geforscht und gelehrt. Die jungen Medizinstudierenden von heute, prägen die ethischen Standards in der Medizin von morgen. Doch welche Werte zählen heute und welche Werte wollen wir in Zukunft bewahren? Welchen Platz sollte künftig ethische Bildung im Curriculum einnehmen? Und hat Demokratieerziehung etwas im Medizinstudium verloren?
Wir brauchen Antworten, gerade jetzt, da Jüdinnen und Juden sich an den Universitäten zunehmend bedroht fühlen – und bedroht werden.
Im Jahr 2024 werden antisemitische Ressentiments und uralter Hass an Hochschulen und Bildungseinrichtungen wiederbelebt. Im gesamtgesellschaftlichen Vergleich ist Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit an Bildungs -und Forschungseinrichtungen zwar nicht stärker vertreten als anderswo. Entscheidend ist aber, wo Antisemitismus und Rassismus in der Geschichte und bis heute erfolgreich den Schein akademischer Legitimität wahren konnte. Schließlich hat die Verwissenschaftlichung von Menschenfeindlichkeit und Verbrechen an Universitäten in Deutschland eine weitreichende Tradition.
Menschen in Gesundheitsberufen hatten in der NS-Zeit einen großen Anteil daran, die nationalsozialistische Rassenlehre, den Antisemitismus und die Diskriminierung von Menschen gesellschaftlich zu legitimieren. Das ist das Ergebnis eines jüngst erschienen Berichtes der Lancet-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust. Von allen Akademikergruppen waren die Ärzte am häufigsten Parteimitglieder. Sie profitierten stark am Ausschluss jüdischer Ärzte. Je nach Region waren zwischen 55 und 66 Prozent der Mediziner in Deutschland Mitglied der NSDAP, der SA oder SS. Es waren keine Einzeltäter, sondern eine ganze Berufsgruppe, die das menschenverachtende System stützte. Organisierten Widerstand gab es unter Ärzten
kaum.

Sehr geehrter Damen und Herren,
Nur wer weiß, zu welchen Taten ein Mensch imstande ist, nur wer weiß, wie ethische Standards völlig entgleiten, ja pervertiert werden können, entwickelt eine
ausreichende Sensibilität für die Bedeutung medizinischer Ethik.

Diese Sensibilität, die aus dem Wissen über die Vergangenheit stammt, muss unbedingt erhalten bleiben! Auch nachfolgenden Generationen muss das vermittelt werden. Das Wissen um diese extreme Verletzung der Menschenwürde damals bewahrt uns vor unbedachten Schritten heute. In Medizingeschichte sollten wir unseren Studierenden nicht nur vermitteln, wer wann das Penicillin entdeckte. Der medizinische Nachwuchs muss das NS-Euthanasieprogramm kennen. Die Zwillings-Versuche von Josef Mengele. Die Menschenexperimente in den KZs. Heute ist eine neue Generation von Ärzten in den Sprechzimmern, die ihre ethische Verantwortung ernst nimmt. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann dabei helfen, denn die Muster von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, sie gleichen sich. Wer sich damit beschäftigt, wie vor 1933 jüdische Ärzte diskriminiert und verdrängt wurden, wird sich fragen: Wie gehe ich heute mit jüdischen Kollegen und Kommilitonen um? Interessiert mich ihre Kultur und ihre Religion überhaupt?
Wenn einem der andere gleichgültig ist, lässt es sich bei Diskriminierung viel leichter wegschauen. Aber welcher Arzt weiß, wann der Ramadan ist und ob er in dieser Zeit seinem muslimischen Kollegen vielleicht ein paar anstrengende Dienste abnehmen kann? Wer springt im Frühling an Pessach für den jüdischen Kollegen ein? Oft genügen kleine Gesten, damit sich jeder willkommen fühlt. Es braucht im beruflichen
Miteinander nicht viel, um den Zusammenhalt zu stärken.